Kaum ein anderer Begriff in der regionalen Heimatkunde und städtebaulichen Entwicklungen hat in den letzten Jahren wohl so an Fahrt gewonnen, wie der Begriff der "Industriekultur". Ein Synonym, welches für eine erste Betrachtung doch etwas paradox in seiner Wortbildung erscheint. Die Industrie, das dunkle Spiegelbild des menschlichen Schaffens, meist groß, laut und dreckig und so richtig will niemand sie in seinem Vorgarten haben. Dagegen steht die Kultur, der bunte Kinderspielplatz einer Gesellschaft, eine Welt voller Bildung, Schauspiel und der ständigen Freude über das "Mensch sein". Doch können diese beiden Begriffe überhaupt zusammenpassen?
So vielfältig man sich dieser Thematik nähern kann, so vielfältig sind auch die vorhandenen Definitionsansätze für die Industriekultur. Doch wo kommt der Begriff überhaupt her?
Ein richtiges Geburtsdatum für die Industriekultur gibt es nicht. In der Industriearchäologie ist man aber inzwischen einstimmig überzeugt, dass der Begriff parallel mit der Reflexion der Menschen zum industriellen Zeitalter entstanden ist. In Deutschland tritt jener Prozess in den letzten 10 Jahren vor dem 1. Weltkrieg auf, die Hochphase der deutschen Industrialisierung. Als das technische Schaffen und der Entdeckungsdrang fast den Zenit erreicht hat, besinnt man sich seiner eigenen Wurzeln der Entwicklung. Ein Effekt, der nicht nur in Wissenschaft und Kunst zum Ausdruck kommt, sondern auch interessantere Weise in der Architektur einen Anklang findet. Zu jener Zeit entsteht mit dem Frohnauer Hammer im Vogtland das erste technische Denkmal in Deutschland. Es zeigt sich, noch während die Dampfmaschinen jeden Tag rauschten und die Webstühle die Musik der Städte einstimmten, beschäftigt man sich bereits intensiv mit Industriekultur. Die kommenden Staatssysteme unterstützen dabei diese Auseinandersetzung mit der Industriekultur nochmals zusätzlich. So werden im Nationalsozialismus die Errungenschaften aus der Industriegeschichte als "Überlegenheit der deutschen Rasse" angesehen und Erfinder sowie Unternehmen zu Heldenfiguren empor gehoben. Die eigene Industrie und die Produkte dienen dabei stets als Propagandamittel. Eine besondere "Kultur" der Deutschen wird versucht zu vermitteln.
Dagegen entwickelt die kommende DDR mit ihrem sozialistischen Leitbild eine eigene Wissenschaft zur Arbeiter- und Industrieforschung. Im selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaat spielt die Fabrik und die Industriekultur eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Leben. Allerdings nicht ohne dabei historische Zusammenhänge staatskonform umzuschreiben. So einzigartig in der DDR streckenweise die Betrachtung der Industriekultur ist, so aufgeschlossen ist die Wahrnehmung für die eigene Frühindustrialisierung. Bereits in den 1950er Jahren entstehen erste Forschungsarbeiten zu der ersten Phase der deutschen Industrialisierung, welche zu einem großen Teil sich in Sachsen entwickelte. Es ist dabei auch festzustellen, dass die DDR wesentlich früher mit der Erfassung von gesellschaftlich wertvollen technischen Denkmälern beginnt, als es die Bundesrepulbik.
Zur heutigen Durchdringung des Begriffes "Industriekultur", mit einem breiten Anwendungsspektrum, kommt es allerdings erst in den letzten 10 Jahren in Deutschland. Seit 1990 kann man im größeren Teil der ehemaligen DDR von einer Deindustrialierung sprechen. Das Industriezeitalter hat sein Ende gefunden. Doch erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand ist der Mensch fähig über die historischen Ereignisse und die verzweigte Bedeutung eine Wertung aufzustellen. In der Historikerauffassung rechnet man dabei oftmals mit zirka 25 Jahren Verzögerung. Auch wenn viele bedeutsame Relikte des Industriezeitalters durch einen übermütigen Abrisswahn in den Nachwendejahren bereits verloren sind, macht der noch vorhandene Bestand eine Auseinandersetzung mit der Industriekultur notwendig. So muss man sagen, es gibt niemanden in der heutigen Zeit, der nicht durch die heimische Industriekultur beeinflusst ist. So sind es die materiellen und geistigen Inhalte dieses Zeitalters, welche die heutige Gesellschaft und dem ihr inne liegenden Lebensraum erst geformt haben. Man muss immer wieder aufzeigen, es gäbe keine Städte, ohne die Industrie, welche sie nährten, es gäbe keine Kunstsammlungen, ohne die Unternnehmer, welche sie finanzierten und viele Regionen in Deutschland wären bis heute wohl nicht derart stark besiedelt, wenn die Arbeit die Menschen nicht zum Siedeln animiert hätte. Zeitlich darf man dabei nie von einer Vergangenheit reden, denn Industriekultur ist bis heute ein aktuelles Thema in industriellen Prozessen. So ist sie ständig gegenwärtig und muss uns nur die Augen für sie öffnen und bereit sein, die eigene Geschichte zu entdecken und aus ihr, denn hier liegt die Sahnehaube, für die Zukunft zu lernen. Industriekultur sind keine maroden Fabriken, sie ist die Brücke zwischen dem Gestern und dem Morgen.
Auf der Suche nach einer Definition stößt man auf die unterschiedlichsten Ansätze. Wir von Industrie.Kultur.Ost vertreten dabei im Umgang mit Industriekultur die Definitionsansätze des Herrn Prof. Albrecht von der TU Freiberg:
"Der Begriff „Industriekultur“ steht für die Beschäftigung mit der gesamten Kulturgeschichte des Industriezeitalters. Er verbindet Technik-, Kultur- und Sozialgeschichte und er umfasst das Leben aller Menschen in der Industriegesellschaft - ihren Alltag, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen. Im Gegensatz zur „Industriearchäologie“ erweitert die „Industriekultur“ den Zeithorizont der Interpretation und Bewertung des „industriellen“ Zeitalters bis in die Gegenwart hinein und lenkt damit den Blick auch auf die aktuellen Entwicklungstendenzen der Industriegesellschaft sowie der in ihnen wirkenden maßgeblichen politischen und kulturellen Phänomene. Das Konzept der „Industriekultur“ erschließt dabei im Wesentlichen drei Erkenntnisperspektiven:
(1) Eine materielle Perspektive mit der Frage nach der dinglichen/ artifiziellen Hinterlassenschaft der Industrialisierung in Raum und Zeit
(2) eine sozialgesellschaftliche Perspektive mit der Frage nach den Arbeits- und Lebensverhältnissen in der Industriegesellschaft; und
(3) eine künstlerisch-wissenschaftliche Perspektive mit der Frage nach der intellektuellen Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Industrialisierung."
(Quelle: Prof. Helmut Albrecht, TU Bergakademie Freiberg, Studiengang Industriearchäologie)